Warum deutsche KI am Stromnetz scheitert – und wie der Weg nach vorn aussehen könnte

TL;DR

Das Dilemma am Beispiel Frankfurt: Wenn Europas Digitalhauptstadt die Stecker ausgehen

“Wer dort ein größeres Rechenzentrum bauen möchte, muss mindestens bis 2030 warten” – mit diesen Worten bringt Kilian Wagner vom Bitkom das Dilemma auf den Punkt. Frankfurt am Main, Europas wichtigster Rechenzentrumsstandort, ist “am Limit”. Größere Anschlussgesuche können erst wieder ab Mitte der 2030er-Jahre vollständig sichergestellt werden. Die vorhandenen Leitungen schaffen einfach nicht mehr.

Die Konsequenzen sind bereits spürbar:

Frankfurt verbraucht bereits heute ein Fünftel des städtischen Stroms für Rechenzentren – weitere Expansion ist unmöglich.


Die Kostenfalle: Wenn Strom zum Wettbewerbskiller wird

Deutschland hat mit 25-30 Cent pro Kilowattstunde die höchsten Strompreise weltweit. In Asien kosten nur 5 Cent, in den USA sind die Preise fast halb so hoch. Da Stromkosten bis zu 60% der Betriebskosten eines Rechenzentrums ausmachen, macht dies deutsche KI-Projekte fundamental unwirtschaftlich.

Ionos CEO Achim Weiß erklärt das Problem deutlich: “Beim Trainieren großer Sprachmodelle in einer deutschen Gigafactory werden wir ein riesiges Problem mit unseren Stromkosten haben”.

Das Netz als Bottleneck

Das deutsche Stromnetz ist “zum Bottleneck geworden” für KI-Entwicklung. Volker Ludwig vom eco-Verband bestätigt: “Aktuelle Erschwernisse bei der Stromversorgung in der Rhein-Main-Region liegen grundsätzlich an einer unzureichenden Stromnetzinfrastruktur – insbesondere auf Seiten der Übertragungsnetze”.


Die Dimension des Problems: KI-Hunger nach Energie

Einzelne KI-Trainingsläufe verbrauchen bereits heute 100-150 Megawatt. Bis 2028 könnte der Bedarf auf 1-2 Gigawatt, bis 2030 auf 4-16 Gigawatt pro Training steigen. Das entspricht dem Strombedarf von Millionenstädten wie Berlin.

Ein konkretes Beispiel: xAI’s Rechenzentrum mit 100.000 H100-GPUs verbraucht 70 Megawatt allein für Berechnungen – mit Netzwerkübertragung verdoppelt sich das auf 140 Megawatt, entsprechend 25 Windkrafträdern.

McKinsey prognostiziert eine Verdreifachung des europäischen Rechenzentrums-Strombedarfs auf 150 TWh bis 2030 – das sind 5% des gesamten europäischen Stromverbrauchs.

Prof. Ralf Herbrich vom HPI Potsdam schätzt, dass Rechenzentren bereits 4-5% des globalen Energieverbrauchs ausmachen. Mit digitalen Technologien insgesamt sind es 8% des weltweiten Energieverbrauchs.


Gescheiterte Milliarden: Wenn Investoren abwandern

Die Deutsche Telekom/Nvidia-Initiative

Die Deutsche Telekom kündigte mit Nvidia eine KI-Fabrik an, blieb aber bei der EU-Bewerbung erfolglos. Jensen Huang, Nvidia CEO, warnte bei seinem Deutschland-Besuch: “Im Zeitalter der KI braucht jeder Hersteller zwei Fabriken: eine zum Herstellen von Dingen und eine zum Erschaffen der Intelligenz, die diese antreibt”.

Oracle und Amazon: Milliarden im Leerlauf

Oracle will 2 Milliarden US-Dollar, Amazon 7 Milliarden Euro investieren – doch beide Projekte werden durch fehlende Stromkapazitäten ausgebremst. Die “marode Infrastruktur” macht Deutschland als Investitionsstandort unattraktiv.


Lösungsansatz 1: Alte Industrieinfrastruktur als KI-Standort

Von der Kohle zur KI: Das Modell Lübbenau

Die stillgelegten Braunkohle-Kraftwerke bieten massive ungenutzte Energieinfrastruktur. Deutschland hat bis 2030 6000 MW Braunkohlekapazität stillgelegt (allein RWE im Rheinland), dazu kommen weitere Gigawatt in der Lausitz.

Lübbenau als Erfolgsmodell: Das ehemalige 1,3-GW-Kraftwerk (einst Europas größtes Dampfkraftwerk) wird zur 200-MW-Rechenzentrumsanlage der Schwarz-Gruppe umgebaut. Die vorhandene Energieinfrastruktur, 13 Hektar erschlossene Fläche und direkte Anbindung ans Hochspannungsnetz machen solche Standorte ideal für KI-Rechenzentren. Ich schrieb dazu bereits einen eigenen Blogartikel.

Weitere Braunkohle-Standorte mit Potenzial

RWE Rheinland:

  • Kraftwerke Hambach und Inden werden bis 2030 stillgelegt
  • Bereits erschlossene Industrieflächen mit Hochspannungsanbindung
  • Nähe zu Ballungszentren Köln/Düsseldorf

LEAG Lausitz:

  • Multiple Kraftwerksstandorte mit zusammen mehreren Gigawatt Kapazität
  • Ostdeutsche Strompreisvorteile gegenüber Westdeutschland
  • Strukturwandel-Förderung verfügbar

Stahlindustrie: Gigantische Flächen und Energieanbindung

Die deutsche Stahlindustrie verbraucht 25 TWh Strom – deutlich mehr als alle deutschen Rechenzentren zusammen. Bei der Transformation zu Wasserstoff-Stahl kommen zusätzlich 45 TWh bis 2030 dazu.

ThyssenKrupp Duisburg-Hüttenheim als Modell:

Weitere Stahl-Standorte:

  • Salzgitter AG mit großen Flächen in Niedersachsen
  • ArcelorMittal Bremen mit Hafenanbindung
  • Verschiedene Ruhrgebiet-Standorte mit Industrieinfrastruktur

Lösungsansatz 2: Deutschlands Trumpfkarte Energieeffizienz

Der europäische Weg: Weniger verbrauchen, mehr erreichen

Deutschland hat tatsächlich das Potenzial, bei energieeffizienter KI weltweit zu führen. Der VDE betont: “Deutschland kann Vorreiter für energiesparende KI werden” durch die Fokussierung auf Nachhaltigkeit bei Hardware und Software.

Konkrete Durchbrüche aus deutschen Forschungsinstituten

Das Hasso-Plattner-Institut in Potsdam unter Prof. Dr. Ralf Herbrich hat mit Binary Neural Networks einen bahnbrechenden Ansatz entwickelt: 32-mal weniger Speicherverbrauch durch 1-Bit statt 32-Bit Werte und 58-mal schnellere Rechenoperationen. Herbrich warnt zugleich, dass Rechenzentren bereits 4-5% des weltweiten Energieverbrauchs ausmachen und dieser Anteil weiter steigen wird.

Die TU Berlin entwickelte mit dem MIT den weltweit ersten optischen Neuromorphic-Chip, der 100-mal energieeffizienter als elektronische Prozessoren ist. Prof. Dr. Felix Dietrich von der TU München entwickelte probabilistische Trainingsmethoden, die 100-mal schneller sind als herkömmliche Verfahren.

Das Jülich Supercomputing Centre koordiniert ein deutschlandweites Netzwerk mit RWTH Aachen, TU Dresden, Karlsruhe und Stuttgart. Deutschland stellt 4 der 10 energieeffizientesten Supercomputer weltweit.

Deutsche Rechenzentren: Bereits heute effizienter

Deutsche Rechenzentren zeigen bereits Fortschritte:

Föderiertes Lernen: Der dezentrale Ansatz

Europa setzt auf “föderiertes Lernen” und dezentrale KI-Ansätze, die deutlich weniger Energie verbrauchen. Statt zentraler Mega-Rechenzentren werden KI-Modelle dezentral trainiert und später zusammengeführt – ein Ansatz, der die deutschen Infrastrukturschwächen abschwächen könnte.

Lösungsansatz 3: Kreative Überbrückung und Abwärmenutzung

Dezentrale Energieversorgung

Aggreko schlägt dezentrale Energieversorgung vor als Überbrückung bis zum Netzausbau. Billy Durie von Aggreko erklärt: “Kurz- bis mittelfristig werden Übergangslösungen für die Energieversorgung erforderlich sein. Sonst besteht die Gefahr, dass die enormen Investitionen anderswo getätigt werden”.

Abwärmenutzung als Effizienzgewinn

Deutsche Rechenzentren können durch Abwärmenutzung ihre Gesamteffizienz deutlich steigern. Schweden zeigt den Weg: Dort heizen Rechenzentren 10.000+ Wohnungen über Fernwärmenetze. Die Schwarz-Gruppe in Lübbenau leitet bereits Abwärme ins städtische Fernwärmenetz.

Industrielle Symbiosen nutzen

Rechenzentren neben energieintensiven Industrien schaffen Synergien:

  • Gemeinsame Energieinfrastruktur reduziert Kosten
  • Abwärmekopplung zwischen verschiedenen Prozessen
  • Load-Balancing zwischen unterschiedlichen Verbrauchsmustern

Die düstere Prognose: Wo Deutschland hingerät

Internationale Abkopplung droht

Deutschland belegt nur noch Platz 8 im globalen KI-Ranking und fällt weiter zurück. Deutsche Unternehmen zeigen sich beim KI-Einsatz zurückhaltend und fürchten regulatorische Hürden, Datenschutzprobleme sowie Kontrollverlust.

Nur 65% der deutschen Unternehmen planen KI-Investitionen gegenüber 73% weltweit. 52% fühlen sich durch Regulierungen eingeschränkt – mehr als in jedem anderen untersuchten Land.

Die Drei-Szenarien-Prognose bis 2030

Das Bundesarbeitsministerium identifiziert drei mögliche Zukunftsszenarien:

Szenario 1: “Wettbewerbsfähiges KI-Ökosystem”

  • Massive Investitionen in deutsche/europäische KI-Modelle
  • Aufholen bei der Entwicklung durch Innovationsdruck
  • Risiko: Negative Auswirkungen auf Unternehmenskultur

Szenario 2: “Hohe Abhängigkeit” (wahrscheinlichstes Szenario)

  • Abhängigkeit von internationalen KI-Anbietern
  • Eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands
  • Wachstumspotenzial wird nicht ausgeschöpft

Szenario 3: “Spezialisierte Nischenmärkte”

  • Fokus auf spezialisierte KI-Modelle
  • Marktführerschaft in deutschen Industrienischen
  • Begrenzte globale Reichweite

Energieengpass als kritischer Faktor

Goldman Sachs warnt explizit: Der “kritische Engpass” beim Strom könnte das KI-Wachstum “stark bremsen”.


NRW als Hoffnungsträger: Von der Kohle zur KI

Nordrhein-Westfalen positioniert sich als “KI-Hotspot” und will “von der Kohle zur KI-Region” werden. Das Land plant die “Umwandlung ehemaliger Kraftwerksstandorte in Rechenzentren” und verweist auf geplante Kapazitäten von Köln/Düsseldorf von 105 MW auf 855 MW bis 2030.

Microsoft’s Milliarden-Investition im Rheinischen Revier zeigt das Potenzial. Doch Ministerpräsident Hendrik Wüst erwartet von der “neuen Bundesregierung, dass sie die Künstliche Intelligenz zu einem zentralen Handlungsfeld macht”.


Fazit: Ein schwieriger, aber nicht aussichtsloser Weg

Deutschland steht vor einer fundamentalen Herausforderung: Die Kombination aus extremen Stromkosten, Netzengpässen und bürokratischen Hürden macht das Land als KI-Standort derzeit unattraktiv. Frankfurt, Symbol für Deutschlands digitale Ambitionen, kann keine neuen KI-Projekte mehr aufnehmen.

Doch der Weg ist nicht aussichtslos. Deutschland verfügt über drei entscheidende Hebel:

Industriebrachen als KI-Standorte: Stillgelegte Braunkohle-Kraftwerke und Stahlindustrieflächen bieten vorhandene Energieinfrastruktur, erschlossene Flächen und Hochspannungsanbindung. Lübbenau zeigt den Weg von der 1,3-GW-Braunkohle zur 200-MW-KI-Infrastruktur.

Energieeffizienz als Trumpfkarte: Deutsche und europäische Forschung entwickelt Methoden, die 100-mal weniger Energie verbrauchen bei vergleichbaren Ergebnissen. Föderiertes Lernen und Hardware-Software-Co-Design könnten Deutschlands Energienachteil kompensieren.

Kreative Übergangslösungen: Dezentrale Energieversorgung, Abwärmenutzung und industrielle Symbiosen schaffen Spielräume bis zum Netzausbau.

Die Entscheidung fällt in den nächsten Jahren: Entweder Deutschland nutzt seine Industriebrachen systematisch für KI-Infrastruktur und setzt konsequent auf Effizienz-Innovation – oder es wird dauerhaft zum abhängigen Nutzer amerikanischer und chinesischer KI-Systeme.

Die gescheiterte deutsche KI-Gigafactory-Allianz war hoffentlich ein gehörter Warnschuss. Beim nächster Chance muss Deutschland zeigen, dass es nicht nur über Probleme reden, sondern sie auch lösen kann. Die Werkzeuge dafür sind vorhanden – es braucht den Willen zur Umsetzung.​​​​​​​​​​​​​​​​