TL;DR Zusammenfassung
Was passiert, wenn ein ehemaliges DDR-Großkraftwerk zur Keimzelle der deutschen KI-Zukunft wird? Die Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) baut in Lübbenau ein massives Rechenzentrum mit 200 Megawatt Anschlussleistung – genau dort, wo einst Europas größtes Dampfkraftwerk Braunkohle verstromte. Der Clou: Die historische Energieinfrastruktur ist noch da. Was jahrzehntelang für die Kohleindustrie gebaut wurde, wird jetzt zum strategischen Vorteil für KI-Rechenzentren. Fertigstellung: Ende 2027. Investition: Milliarden. Und das Beste: Die Schwarz-Gruppe macht das auch ohne EU-Förderung. Ein Beispiel dafür, wie privates Kapital die deutsche KI-Infrastruktur vorantreibt – und wie der industrielle Strukturwandel unerwartete Chancen schafft.
Ein Kraftwerk wird zum Rechenzentrum: Die Geschichte von Lübbenau
Wenn Sie heute durch Lübbenau im Spreewald fahren, sehen Sie auf den ersten Blick eine beschauliche Stadt. Doch die industrielle Vergangenheit dieses Ortes ist beeindruckend – und seine digitale Zukunft könnte noch bedeutender werden.
Das historische Kraftwerk: Europas größter Dampfkoloss
Am 23. Oktober 1957 wurde in Lübbenau der Grundstein für das erste Großkraftwerk der DDR gelegt. Mit einer Gesamtleistung von 1,3 Gigawatt wurde es zu seiner Zeit zum größten Dampfkraftwerk Europas. Sieben Schornsteine ragten 140 Meter in die Höhe und prägten die Silhouette der Region.
Die Dimensionen waren gewaltig: Drei Kraftwerksblöcke (Werk I mit 6 × 50 MW, Werk II mit 6 × 100 MW, Werk III mit 4 × 100 MW) versorgten die DDR mit Strom. Die Herausforderung? Ein Kraftwerk „in kürzester Zeit in einem ländlichen Gebiet ohne nennenswerte Industrie und fast ohne infrastrukturelle Voraussetzung“ zu errichten.
Das Kraftwerk war technisch innovativ: Erstmals erhielt jeder Kraftwerksblock ein eigenes Rohrleitungssystem, wodurch unabhängiger Betrieb möglich wurde – eine Praxis, die bis heute Standard für Dampfkraftwerkkomplexe ist.
Nach der Stilllegung am 30. Juni 1996 begann der Rückbau. Zwischen 1996 und 2010 wurden alle Schornsteine sowie die Hauptgebäude gesprengt. Am 9. Mai 2010 wurde mit 700 Sprenglöchern und 500 kg Sprengstoff das Werk II als letztes gesprengt. Das Areal wurde in ein Gewerbegebiet umgewandelt.
Doch was blieb, war etwas Entscheidendes: die Energieinfrastruktur.
Das STACKIT-Rechenzentrum: Ein Mega-Projekt mit strategischer Dimension
Die Schwarz-Gruppe: Vom Discounter zum Tech-Player
Die Schwarz-Gruppe – bekannt durch Lidl und Kaufland – hat sich mit ihrer IT-Sparte Schwarz Digits als ernstzunehmender europäischer Cloud-Anbieter positioniert. STACKIT ist die Cloud-Plattform der Schwarz-Gruppe und wurde ursprünglich als interne Infrastruktur aufgebaut, bietet seit 2022 aber auch externen Kunden Cloud-Dienste an.
Mit Bernd Wagner, der seit November 2024 als CEO von STACKIT fungiert, hat die Schwarz-Gruppe einen erfahrenen Cloud-Experten gewonnen. Wagner war zuvor Managing Director Google Cloud Germany und Senior Vice President Sales bei T-Systems International. Seine Hauptaufgabe: den Ausbau von Marketing und Vertrieb, da große Cloud-Anbieter bereits starke Netzwerke mit IT-Dienstleistern aufgebaut haben.
Das Rechenzentrum Lübbenau: Die technischen Fakten
Das geplante Rechenzentrum beeindruckt mit seinen Dimensionen:
- Fläche: 13 Hektar (129.750 Quadratmeter)
- Anschlussleistung: Bis zu 200 Megawatt
- Höhe: 33 Meter
- Fertigstellung: Ende 2027
Die Infrastruktur umfasst sechs Gebäude für die Rechnerkapazitäten, ein fünfstöckiges Verwaltungsgebäude und ein Umspannwerk. Direkter Nachbar ist das große Kaufland-Zentrallager.
Geostrategische Vision: Georedundanz als Sicherheitskonzept
Die Schwarz-Gruppe verfolgt mit diesem Großprojekt nicht nur die reine Datenspeicherung, sondern eine geostrategische Vision. Das Rechenzentrum soll mindestens 200 Kilometer vom Hauptquartier in Neckarsulm entfernt sein, um eine georedundante Infrastruktur zu schaffen.
Ziel ist der Schutz vor Naturkatastrophen und Cyberangriffen durch kontinuierliche Replikation kritischer Daten. Die erzeugte Abwärme wird in das Fernwärmenetz der Stadtwerke Lübbenau eingeleitet – ein nachhaltiger Ansatz, der Ressourcen schont.
Der entscheidende Vorteil: Die 200 Megawatt Infrastruktur
Was bedeutet „200 MW Infrastruktur“ eigentlich?
Obwohl das Kraftwerk Lübbenau längst Geschichte ist, bleibt die Bezeichnung „200 Megawatt Infrastruktur“ höchst relevant. Gemeint ist:
- Vorhandene Hochspannungs-Anbindung: Die Fläche verfügt weiterhin über leistungsfähige, groß dimensionierte Stromtrassen (Hochspannungsleitungen) und Umspannwerke, die ursprünglich zur Versorgung des Kraftwerks und zur Einspeisung ins Stromnetz gebaut wurden.
- Verfügbarkeit von Netzanbindung: Es existiert bereits die technische Infrastruktur, um große Strommengen an den Standort zu liefern, ohne aufwändige Neuerschließung.
Die 200 Megawatt für das Rechenzentrum werden also nicht vor Ort erzeugt, sondern aus dem öffentlichen Stromnetz bezogen – über die vorhandenen großen Leitungen und Umspannwerke. Diese Netzstruktur erlaubt es, eine so hohe Leistung bereitzustellen – an vielen anderen Standorten wäre das ohne teuren und langwierigen Ausbau nicht möglich.
Warum ist das ein Standortvorteil?
Der Standort Lübbenau bietet optimale Bedingungen:
- Ehemalige Kraftwerksinfrastruktur: Bereits vorhandene Energieanbindung und industrielle Basis
- Gute Verkehrsanbindung: Nähe zur Autobahn und Bahnanschluss
- Verfügbare Flächen: 13 Hektar auf bereits erschlossenem Industriegelände
- Geografische Redundanz: Die Entfernung zu Neckarsulm (über 400 km) gewährleistet Schutz vor regionalen Ausfällen
Der Standort liegt an einer der großen Übertragungsachsen, die für Industrie und Stromexport Richtung Berlin und Westdeutschland ausgelegt sind.
Politische Unterstützung: Brandenburg und Bund stehen dahinter
Land Brandenburg: Vom Kohleausstieg zur Digitalwirtschaft
Brandenburg sieht den Standort als Teil der „digitalen Transformation“ und als Arbeitsmarktmotor für die Lausitz nach dem Kohleausstieg. Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) begrüßte die Pläne öffentlich: „Die Lausitz kann so von der Energiewirtschaft zur Digitalwirtschaft transformiert werden; wir wollen für alle Unternehmen solche Ansiedlungen möglich machen und politisch unterstützen.“
Es gibt Programme, die den Strukturwandel nach dem Kohleausstieg mit gezielten Förderungen von Rechenzentren und digitaler Infrastruktur vorantreiben sollen, teils aus den Mitteln des Bundes und EU-Fonds für „Just Transition“ und „Strukturstärkung Lausitz“.
Bundesregierung: Digitale Souveränität als Ziel
Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) unterstützt Projekte zur Rechenzentrumstransformation explizit in Strukturwandelregionen – Lübbenau ist dazu Modellstandort. Die Bundesregierung sieht große Rechenzentren als Teil des Projekts „digitale Souveränität“ und fördert regionale Konzepte im Rahmen von Digitalstrategie und Energieeffizienz-Initiativen.
Konkrete Förderzusagen für Lübbenau hängen teils noch von der EU-Förderung ab, sind aber auch bei ausbleibender EU-Förderung wahrscheinlich, etwa über Strukturhilfe und die Bund-Länder-Fördermittel für die Lausitz.
Investition auch ohne EU-Förderung: Private Akteure treiben KI voran
Die Schwarz-Gruppe investiert Milliarden
Ein entscheidender Punkt: Die Schwarz-Gruppe hat betont, sie werde das Rechenzentrum auch bei ausbleibender EU-Gigafactory-Förderung bauen. Das Großprojekt ist Teil der eigenen Digitalstrategie und wird auch mit Bundes- und Landesmitteln aus Strukturwandelhilfen gestützt.
Die Schwarz-Gruppe investiert 3,7 Milliarden Euro in Deutschland, wobei die Investitionen im Vergleich zum Vorjahr um 1 Milliarde Euro gestiegen sind. In den Aufbau der Cloud soll ein zweistelliger Milliardenbetrag investiert werden.
Gerd Chrzanowski (Chef der Schwarz-Gruppe) erklärte, man investiere „in einer Zeit globaler Unsicherheiten“ in „ein digital souveränes Europa“.
Der Betrieb als klassisches Hyperscaler-Rechenzentrum
Der Betrieb als klassisches Hyperscaler-Rechenzentrum (Cloud, Big Data, Digitalisierung für Handel und Industrie) ist unabhängig von EU-Zuschüssen fest eingeplant. STACKIT baut zusammen mit SAP eine deutsche Hyperscaler-Infrastruktur auf. Die Cloud Rise von SAP, die bisher in den USA und China untergebracht war, soll künftig auf STACKIT-Infrastruktur laufen.
Mit diesem „Hyperscaler“ sollen enorme Rechen-, Speicher- und Netzwerkressourcen-Infrastrukturen betrieben und weltweit bereitgestellt werden. Ziel ist es, eine europäische Alternative zu Amazon Web Services und Microsoft Azure zu schaffen.
Die gescheiterte KI-Gigafactory-Bewerbung: Ein Konsortium, das nicht zustande kam
Die ursprüngliche Allianz mit dem HLRS Stuttgart
Bei der gescheiterten deutschen KI-Gigafactory-Bewerbung hatte sich die Schwarz-Gruppe das Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) als Mitstreiter gesichert. Das HLRS unterstützt die Schwarz-Gruppe bei ihrer AI-Gigafactory-Initiative, wie Geschäftsführer Bastian Koller bestätigte: „Wir bringen unsere Erfahrung im Umgang mit industriellen und nichtindustriellen Kunden ein.“
Das HLRS zählt mehr als 70 Industriekunden, die seine Rechenleistung für eigene KI-Anwendungen nutzen. Bastian Koller betonte: „Allen ist klar: Die AI Gigafactory muss ein Erfolg werden!“
HammerHAI: Der erfolgreiche alternative Weg
Während die gemeinsame deutsche Bewerbung scheiterte, war das HLRS mit HammerHAI erfolgreich. Das Projekt mit einem Budget von 85 Millionen Euro wird unter Koordination des HLRS umgesetzt, zusammen mit dem LRZ München, GWDG Göttingen, KIT Karlsruhe und SICOS BW.
Prof. Michael Resch (HLRS-Direktor) erklärte: „Die Schaffung einer robusten, nativen Infrastruktur für künstliche Intelligenz wurde von der europäischen und der deutschen Regierung als hohe Priorität eingestuft. HammerHAI wird schnell helfen, diesen Bedarf zu decken.“
Lübbenau als potenzielle KI-Gigafabrik: Die Zukunftsperspektive
Die Eignung für eine AI Gigafactory
Das Rechenzentrum in Lübbenau „könnte in Zukunft zu einer Gigafabrik ausgebaut werden“. Die Schwarz-Gruppe plant, sich auf die KI-Förderung der EU zu bewerben und will bei einem Treffen mit Digitalminister einen Plan vorstellen, wie sie die finanzielle Hilfe optimal nutzen würde.
Mit 200 Megawatt Anschlussleistung würde sich die Anlage als AI Gigafactory eignen. Die Fertigstellung bis Ende 2027 würde zeitlich gut zu den EU-Gigafactory-Plänen passen.
Digitale Souveränität als Kernziel
Christian Müller (Co-CEO Schwarz Digits) betont: „Wollen Unternehmen und Organisationen zukunftsfähig aufgestellt sein, müssen sie zentrale Geschäftsprozesse in einer Cloud-Umgebung modernisieren und digitalisieren.“
Die Fokussierung auf „vertrauenswürdige KI und digitale Souveränität“ unterscheidet STACKIT von den amerikanischen Hyperscalern. Daten sollen ausschließlich in Deutschland verarbeitet werden und europäischen Rechtsstandards unterliegen.
Fazit: Industriegeschichte als unerwarteter Trumpf
Die Geschichte von Lübbenau zeigt, wie der industrielle Strukturwandel unerwartete Chancen schaffen kann. Was jahrzehntelang als Relikt der Vergangenheit galt – die Energieinfrastruktur eines stillgelegten Kraftwerks – wird plötzlich zum strategischen Vorteil.
Private Investoren wie die Schwarz-Gruppe treiben die deutsche KI-Infrastruktur voran, auch ohne auf staatliche Förderung zu warten. Sie nutzen geschickt vorhandene Strukturen und denken langfristig.
Wo einst Braunkohle verstromt wurde, könnte bald die digitale Zukunft Deutschlands entstehen. Die 200 Megawatt Anschlussleistung in Lübbenau machen das Rechenzentrum zu einem idealen Kandidaten für eine künftige KI-Gigafabrik – falls die Schwarz-Gruppe bei einer zweiten Bewerbungsrunde erfolgreicher agiert als 2025.
Der Standort vereint industrielle Tradition mit digitaler Innovation. Lübbenau könnte zum Symbol werden für Deutschlands Weg in die KI-Zukunft – gebaut auf dem Fundament einer fast vergessenen Industriegeschichte.
